Elementare Gestaltung

Sowohl in Fragen der Konstruktion als auch des Designs sieht sich der Künstler-Ingenieur Werner Graeff häufig als ein Neuerer von tradierten Lösungen, die dem Anspruch des Neuen Menschen des 20. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Mit dem Ruf nach "elementarer Gestaltung" fordert er gleichzeitig eine durchdachte Planung wie eine gleichermaßen durchgeführte Formgebung, die dem Wesentlichen an Aufgabe und Funktion des Gegenstandes Rechnung tragen. "Elementar" sind dabei die Dinge selbst, an sich und für sich, ohne Kaschierung oder symbolisches Beiwerk. Da auch die Konstruktion eines Dinges von dessen Aufgabe bestimmt wird und sich daraus feste Größen und Verhältnisse ergeben, ist es also auch die Konstruktion, die wesentlich das Aussehen eines Fahrzeuges, eines Hauses oder auch eines Plakates bestimmt.

Sich selbst bezeichnet der Autonarr Graeff auch als "zweifellos konstruktiv" und so geht er zunächst daran, Motorrad- und Automobilkonstruktionen neu zu durchdenken. Es entstehen bis in die 1930er Jahre hinein Aufsätze, Ideen und Zeichnungen zu diesem Thema.



Motorrad-Konstruktion, 1922


"Im Gegensatz zur Mehrzahl der üblichen Motorradtypen ist die Konstruktion nicht vom Tretfahrrad abgeleitet." (Werner Graeff)

In der Avantgardezeitschrift "G", die er zusammen mit Hans Richter 1923 ins Leben ruft, arbeitet Werner Graeff als einer der Ersten bewusst mit typografischen Elementen. Seit seinem ersten Buch 1927 über seinen Freund und Kollegen Willi Baumeister (Graeff ist Herausgeber) achtet er auch bei allen späteren Werken besonders auf die neuesten typografischen Gestaltungsmittel. So weisen seine Bücher über z.B. Automobiles und Fotografie, Graeffs zweiter Leidenschaft, einen zur Vermittlung der Inhalte neuartigen Umgang mit Bild- und Textmaterial auf, indem sie Begriffe und Vorgehensweisen bildlich erklären.

Seit 1925 ist Werner Graeff Mitglied des Deutschen Werkbunds und arbeitet an verschiedenen Projekten mit, so als Mitarbeiter von Ausstellungen und Kongressen oder als Herausgeber von Büchern. Durch seine intensive Arbeit mit neuen gestalterischen Ausdrucksmitteln, die der besseren Vermittlung von Inhalten dienen, kommt er 1931 als Dozent für Fotografie an die damals bedeutendste private Kunstschule in Berlin, die Reimann-Schule. Vorausgegangen waren Lehrbücher wie "Eine Stunde Auto" (1928), "So sollten Sie fotografieren lernen" (1930), hauptsächlich aber "Es kommt der Neue Fotograf!" (1929), das anläßlich der Ausstellung "Film und Foto" des Deutschen Werkbunds herauskommt und in dem Graeff neue Mittel und Wege der Fotografie propagiert.
Werner Graeffs erster Beitrag über das Gestalten von Drucksachen erscheint ebenfalls in dieser für ihn äußerst kreativen Phase zum Ende der 1920er Jahre in dem Buch "Gefesselter Blick. 25 kurze Monografien und Beiträge über neue Werbegestaltung".




Kleinwagen-Konstruktion, 1923


Werner Graeff:

Die meisten deutschen Autos haben Spitzkühler

Sie sind mitschuldig

Das Publikum ist der Meinung, daß die Luft "durchschnitten" werden müsse. Die Hauptsache wäre demnach, das Auto keilförmig zu bauen. Also ist der spitze Kühler der beste?
Nein! Ihr Irrtum ist sogar zweifach. Aber die Industrie beging den Fehler, Ihnen Konzessionen zu machen, anstatt Sie aufzuklären.
Bitte beachten Sie, daß erstens ein Keil garnicht die bestgeeignete Form zur störungsfreien Luftverdrängung ist. Exakte aerodynamische Versuche haben ergeben, daß die sogenannte Tropfenform (vorn abgerundet, größte Breite etwa am ersten Drittel, hinten spitz) die weitaus günstigste ist. - Dann sollte man den Kühler also gerundet bauen?
Diese Meinung setzt sich neuerdings beim Publikum durch - und wieder macht die Industrie Ihnen Konzessionen: einige Firmen bauen jetzt halbrunde Kühler. Man läßt Sie bei Ihrem zweiten Irrtum.
Nun werden wir Sie aufklären; denn wir lieben die elementare Arbeit.
Ein Kühler besteht aus einem Netz feiner Röhrchen. Das den heißen Motor umspülende Kühlwasser wird oben in den Kühler eingeführt und rieselt verteilt herab. Der Fahrwind durchströmt das Röhrchen-Netz, und das gekühlte Wasser läuft unten dem Motor wieder zu. Sie sehen: der Kühler darf gar nicht die Luft auseinandertreiben, sondern er muß sie gerade durchlassen. Die technisch und fabrikatorisch einfachste (also billigste) und wirksamste Form ist daher die des Flachkühlers. Auf der letzten berliner Automobilausstellung (Herbst 1923) war zu sehen, daß viele Autofirmen neben ihren bekannten Spitzkühlertypen, Flachkühler anwendeten. Leider sieht man sie kaum im Handel: "Weil das Publikum Spitzkühler schöner findet".
Das Schönheitsideal, meine Herren Motorwagen-Fabrikanten, ist sehr abhängig vom Zweckmäßigkeitsempfinden. Sobald das Publikum weiß, daß spitz unrichtig ist, beginnt es, Flachkühler zu lieben.
WIR SIND ÜBERZEUGT, DASS SIE BESSER TUN, ELEMENTAR ZU KONSTRUIEREN - UND NÖTIGENFALLS DAS PUBLIKUM AUFZUKLÄREN.

aus: "G - Zeitschrift für elementare Gestaltung", Nr. 3, Juni 1924



Automobil-Konstruktion, 1923


Werner Graeff:

Werner Graeff. Schriftsteller und Typograph

Das Bild gewinnt gegenüber dem Wort immer mehr an Bedeutung. Also kann es auch dem Schriftsteller nicht mehr genügen, das Bild seiner Schrift als Beigabe hinzuzufügen - er muß es vielmehr als einen unlösbaren Bestandteil in seine Arbeit einbeziehen. Das setzt voraus, daß der Schriftsteller bereits beim Schreiben das Aussehen der fertigen Druckseite vor Augen hat (...).

Der Drucker darf nicht vor unlösbare Aufgaben gestellt werden. Mithin fordert solches Arbeiten Kenntnis wenigstens der Grundbegriffe der Typografie. Format, Satzspiegel, Schrifttype und Grad müssen von vornherein bestimmt sein. Und der Fall kann nur dann so einfach liegen..., wenn der Buchinhalt wirklich in Bildern und Worten zugleich erdacht ist, wenn Bild und Wort durchaus gleichberechtigt sind.

Man hat derartiger Arbeit vorgeworfen, daß der Text zerrissen werde und ein unruhiges Satzbild entstehe. Man bleibt lieber bei der alten Art, an irgend einer Stelle mitten im Satz Anmerkungen einzufügen.

Denn da der Text ziemlich unabhängig vom Bild geschrieben ist, so läßt es sich auch selten erreichen, daß das Bild wenigstens auf der richtigen Seite steht. Man erzielt allerdings vielleicht eine gewisse Geschloßenheit des Satzbildes, aber nur auf Kosten des Lesers; denn der Lesevorgang wird alle paar Zeilen unterbrochen. Der Leser muß mitten im Satz anhalten, die nummerierte Abbildung nachschlagen,, gar noch innerhalb des Bildes nach schlecht auffindbaren Buchstaben fahnden und schließlich den abgebrochenen Satz wiederfinden. Die Arbeit ist derart störend, daß viele Leser lieber auf das Suchen verzichten und ohne Bild weiterlesen. Ist es da nicht richtiger, den Lesevorgang wirklich zu erleichtern - und sei es auch auf Kosten des äußeren Eindrucks vom Satzbild? (...)

aus: "Gefesselter Blick. 25 kurze Monografien und Beiträge
über neue Werbegestalter", Stuttgart, 1930


1934 emigriert Werner Graeff nach Spanien, 1936, nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs mit Hilfe Hans Richters in die Schweiz, in der er 15 Jahre bleibt.
Auf diesen Wegen quer durch Europa gehen die meisten seiner Arbeiten verloren, sieht er viele seiner Freunde, Künstlerkollegen und Bekannte für Jahre nicht mehr. In Spanien baut er für ein Filmstudio Kulissen, fotografiert er für Bauherren und Architekten Häuser. In der Schweiz gibt es zunächst keine Arbeitsmöglichkeit, ist die Aufenthaltsdauer für Flüchtlinge pro Kanton auf sechs Monate beschränkt. Graeff muß mehrmals umziehen.
In dieser Zeit entstehen wenig Arbeiten aus rein künstlerischer Motivation. Erst 1940 ist es ihm in Locarno möglich an einer Schule erneut Fotokurse zu geben. Es erscheint 1942 sein nächstes Lehrbuch zur Fotografie, "Kamera und Auge".
Wirtschaftlich erfolglos widmet sich Graeff während seiner Schweizer Zeit der Konstruktion verschiedener Geräte rund ums Fotografieren, so der "Kleinkamera 'Graeff'", einer der weltweit ersten Miniaturkameras. Mit der Publikation "Prospekte wirksam gestalten" greift Graeff 1950 wieder auf sein Wissen über das Gestalten zurück und gibt eine abschließende Zusammenfassung seiner gestalterischen Ideen aus fast drei Jahrzehnten typografischer und auch didaktischer Arbeit heraus. Im gleichen Jahr entwickelt er eine Ausstellung über die Kohleförderung (Montan-Union) in Paris durch den Marshall-Plan.

Im Mai 1951 kehrt Werner Graeff zurück nach Deutschland. Er nimmt seine künstlerische Arbeit wieder auf, wird im Dezember Leiter der Fachklasse für freie und angewandte Fotografie an der Folkwangschule in Essen. Sowohl für den Deutschen Werkbund, bei dem Graeff seit 1925 Mitglied ist, als auch für den durch die Bundesregierung gegründeten "Rat für Formgebung" wird Graeff aktiv. Graeff beteiligt sich an Diskussionen über eine Neuausrichtung des Unterrichts von (Industrie)Designern und organisiert 1957 für den Rat für Formgebung den "Internationalen Kongreß für Formgebung".



Texte Werner Graeffs zu diesem Thema


© 2001-20123 Ursula Graeff-Hirsch, Bernd Eichhorn