Werner Graeff:
Als Schüler am Bauhaus - wo ich 1921/22 Ittens berühmtem Vorkurs beiwohnte - konnte ich Klee, Schlemmer, Feininger beobachten; ich hörte zu dieser Zeit auch van Doesburgs Gestaltungslehre; später lernte ich Mondrian und Arp kennen und schaute gelegentlich Schwitters und oft Baumeister bei ihrer Arbeit über die Schulter. Nicht einer dieser Großen errechnete seine Bilder; allen aber war das Malen: zuweilen Experiment, sehr oft Abenteuer und immer wieder Lust.
Auf die zuweilen an mich gestellte Frage: "Wie kamen Sie auf dieses Bild?" kann ich gewöhnlich keine befriedigende Antwort geben. Ich entsinne mich meist nur an Nebensächliches. Der eigentlich schöpferische Vorgang, der dem gelungenen Werk zugrunde liegt, tritt kaum ins Bewußtsein, ist dem Gedächtnis entschwunden. Er entspricht ja auch nur dem kleinsten Teil der Gesamtarbeit. Wie sagt Edison vom Erfinden? "Ein Prozent Inspiration - neunundneunzig Prozent Transpiration!"
Bei des Künstlers "Finden" ist es grundsätzlich nicht viel anders. Ich meine, die wenigsten könnten von ihren Bildern sagen, wie sie "eigentlich" entstanden sind. Wohl aber können sie zuweilen den Anlaß nennen: das Bedürfnis, auf einem ihrer früheren Werke aufzubauen, indem sie es etwa vereinfachen, jedenfalls verändern, ihm neue Aufgaben entnehmen.
Oft reizt es mich, eine früher gefundene, wohlgelungene Form in anderem Maßstab, auf anderem Untergrund, in anderer Farbskala zu erproben; oder gar eine Form anstatt farbig, räumlich auszubauen, eine Skulptur zu schaffen, eine Skulpturengruppe zu versuchen.
Eine der ersten Aufgaben, die Johannes Itten in seinem Vorkurs um 1921 am Bauhaus in Weimar zu geben pflegte, lautete ganz einfach: "Bitte füllen Sie das Blatt rasch mit Linien!" Wir griffen zur Kohle oder zum Graphitblock, vor uns der Stapel großer Blätter unbedruckten Zeitungspapiers. Man beginnt, so gut man kann. Der eine zaghaft, vielleicht sehr feinfühlig, ein anderer getraut sich überhaupt nicht, etwas zu zeichnen; er weiß nicht, was er machen soll, oder er meint: was denken wohl die anderen, wenn ich jetzt hier einen Kringel male? Und ein dritter legt recht kühn los: ruckzuck-bums! Das Blatt ist fertig! (...)
Freie Rhythmus-Studie aus dem Johannes-Itten-Vorkurs am Bauhaus
Hatten wir unsere "grafischen Bewegungsspuren" fertig, so suchte Itten ein paar charakteristische heraus und stellte uns im Halbkreis auf; man hielt sein Blatt vor sich hin, und Itten sagte: "Sehen Sie - jeder hat sein Selbstportrait gemacht." Und das ist klar! Zwar waren es abstrakte Zeichnungen, aber zugleich schlagende Selbstbildnisse, vergleichbar jenen, die ein geübter Graphologe in einer Handschrift erkennt.
In Erinnerung an diesen Unterschied habe ich noch in den letzten Jahrzehnten gelegentlich strenge Zeichen in meinen Bildern verwendet. Und da ergeben sich immer neue Aufgaben: Wollen wir die Zeichen dunkel auf einen bunten Grund geschlossener Formen setzen (BUGRU) oder auf einen weniger bestimmten? (ABAX). Sollen wir einer klar umrissenen Form ein zerfließendes Zeichen beigesellen? Oder, die obere von der unteren Bildhälfte deutlich getrennt, zum gehäuften, geschlossenen Oben kontrastierend, unten fließende, lockere Gebilde setzen? (URB 3).
BUGRU, 1952
NEOGIT 1, 1967
NEOGIT 1 entstand ebenso wie andere Bilder der Serie NEOGIT viele Jahre nach dem sehr viel komplizierteren Ur-GIT von 1951 aus dem Bestreben zu vereinfachen und dabei die Wirkung zu verstärken.
Es gehörte in den zwanziger Jahren zum Konzept der Konstruktivisten - und speziell der Stijl-Gruppe, der ich (als Jüngster) ab 1922 bis 1931 angehörte - die Symmetrie im Bilde zu meiden. Diese Abneigung ist als Reaktion auf eine Überschätzung des symmetrischen Aufbaus früherer Zeiten zu verstehen. Bauten, Plakate, Inserate, Schriftsätze aller Art wurden noch bis in die zwanziger Jahre hinein gedankenlos selbst dann symmetrisch gebildet, wenn solche Formung sinnwidrig, hohl, leer war. Demgegenüber gehörte es zum Programm der führenden "Stijl"-Künstler Mondrian und van Doesburg: mit einfachsten Mitteln ohne Symmetrie ein Gleichgewicht im Bilde zu erzielen. Eine interessante Aufgabe, der auch ich mich gern widmete.
STIJL 9, 1961
Nachdem fortschrittliche Architekten, Maler, Typografen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts dem Mißbrauch der symmetrischen Form Einhalt geboten haben, war es - so schien es mir - an der Zeit, einer sinnvoll angewandten Symmetrie wieder kritisch Raum zu geben.
Dann nämlich kann die symmetrische Gestaltung eine spezifische Ausdruckskraft gewinnen. Die Form schaut uns an, springt uns gewissermaßen an, sie vermag uns zu packen.
Aber strengste, ganz exakte Symmetrie wirkt auf mich unlebendig. Also interessierte mich die Frage, wieweit ich vollendete Symmetrie durch leicht "störende" Abwandlungen verändern darf, ohne ihr jenes spezifische Ausdrucksvermögen zu nehmen, das symmetrischen Gebilden eigen ist. (...)
Anlaß zu einem Bild - oder zu einer Serie von Bildern - kann ein strittiges künstlerisches Problem sein. Genauer gesagt: die Überprüfung eines Lehrsatzes. So hatte einst ein alter Freund und sehr geschätzter Kollege angesichts eines meiner Bilder, das uns zwar gefiel, aber dennoch irgendeinen geheimen, störenden Mangel zu enthalten schien, behauptet: "Du darfst ein Bild nicht aus drei gleich großen abstrakten Figuren aufbauen; da liegt der Fehler!" Ich übermalte links eine Figur und ersetzte sie kurz entschlossen durch ein kleines, markantes Zeichen - die Wandlung zum Besseren war deutlich. Also schien der "Lehrsatz" zu stimmen?
Ich war skeptisch genug, das nachzuprüfen, indem ich eine Anzahl Bilder mit der Reihung von drei oder mehr gleich großen abstrakten Figuren entwarf, denen wir die Wirkung nicht absprechen konnten.
Der Freund bestätigte daraufhin, daß er seinen Lehrsatz nicht mehr als unumstößlich erachten könne.
Neunundneunzig Prozent "Transpiration"? Mag sein. Eine Arbeit übrigens, die wir nicht missen wollen. Aber wenn es an jenem unerklärlichen "einen Prozent" fehlen sollte, so wäre alles Mühen unnütz!
aus: "Werner Graeff, Arbeiten von 1922 bis 1977", Trier, 1977
TAM 4, 1956
MONPELBAC 15, 1961
BORPU, 1972
RUTEPHEL, 1978
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